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Allgemeinbegriff
HERMANN LOTZE

Wenn zugleich ein starkes und ein schwaches Licht wahrgenommen werden, so wird daraus nicht die Empfindung eines einzigen Lichtes, welches die Summe von beiden wäre; beide bleiben vielmehr getrennt und wieder vom einen zum andern übergehend, werden wir uns einer anderen Änderung unseres Zustandes bewußt, nämlich des bloß quantitativen mehr oder minder eines und desselben Eindrucks.

Endlich, wenn zwei ganz gleiche Eindrücke in uns gesondert haben entstehen können, so verschmelzen sie nun nicht mehr in einen dritten; aber indem wir sie auf die vorige Weise vergleichen und uns beim Übergang von einem zum andern gar keiner Veränderung unseres Vorstellens bewußt werden, entsteht uns die  neue  Vorstellung der Gleichheit.

Es ist wichtig, sich klar zu machen, daß alle diese neuen Vorstellungen, die wir als solche einer höheren Ordnung bezeichnen können, keineswegs als Resultanten aus einer bloßen Wechselwirkung der ursprünglichen einfachen Vorstellungen in derselben Weise entspringen, wie man in der Mechanik eine dritte Bewegung aus dem Zusammentreffen zweier anderer konstruiert. Diese Analogie gilt auf geistigem Gebiet überhaupt nicht; immer sind vielmehr die beiden Eindrücke  a  und  b  bloß als Reize anzusehen, die auf die ganze eigentümliche und einheitliche Natur eines vorstellenden Subjekts einwirken und in diesem als Reaktion die Tätigkeit anregen, durch welche die neuen Vorstellungen, z. B. der Ähnlichkeit, der Gleichheit, des Gegensatzes usw. entstehen, welche ohne Anregung dieser neuen geistigen Tätigkeit aus dem bloßen Zusammenwirken der einzelnen Eindrücke nicht entstehen würden.

Auf dieselbe Weise, wie diese neuen Vorstellungen, entsteht überhaupt alles, was wir als  Allgemeinbegriff  bezeichnen. Man pflegt zu behaupten, die ungleichartigen Bestandteile verglichener Vorstellungen höben einander durch ihren Gegensatz auf, das zurückbleibende Gleichartige stelle dann ohne weiteres das Allgemeine dar. Allein die einzelnen Beispiele, aus denen wir einen Allgemeinbegriff bilden, gehen ja dabei gar nicht zugrunde, sondern ihre Vorstellungen erhalten sich fort neben dem Allgemeinen, welches als ein neues Erzeugnis bloß zu ihnen hinzutritt; auch bildet der Allgemeinbegriff niemals etwas, was sich als ein festes Bild in derselben Weise anschaulich vorstellen ließe, wie die einzelnen Beispiele, aus denen es entstand. So ist die  Farbe im allgemeinen  nicht vorstellbar, sie sieht weder grün noch rot, sondern sie sieht gar nicht aus und ebenso gibt es vom  Tier überhaupt  gar kein feststehendes Bild von ähnlicher Anschaulichkeit, wie das Bild jeder einzelnen Tierspezies. Alle solchen allgemeinen Begriffe sind daher nicht Produkte eines Zusammenwirkens vieler Einzelvorstellungen, denn sie würden dann denselben Charakter haben, wie diese ihre Komponenten. Die Namen, mit denen wir sie bezeichnen, z. B. Farbe, sind eigentlich bloß Aufforderungen an uns, uns eine Reihe verschiedener Einzeleindrücke vorzustellen, jedoch mit dem Nebengedanken, daß es nicht auf sie, sondern auf das Gemeinsame ankomme, das in ihnen enthalten ist, das sich aber nicht von ihnen als eine gleichartige Vorstellung trennen läßt.


LITERATUR, Hermann Lotze, Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1881